Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Weihnachten ist das Fest der Liebe und der Nächstenliebe. Und heutzutage für viele Menschen auch das Fest der Geschenke... Einige flitzen in den letzten Tagen vor Weihnachten gestresst durch die Stadt, um noch die letzten Besorgungen zu machen.

Ich möchte euch heute gerne die Geschichte von Surapat und mir „schenken“, denn ich bin nicht nur Gründerin und Vorsitzende von Thai Care, sondern auch eine Patenmama für zwei Kinder aus Thailand.

Surapat haben wir ins Projekt aufgenommen, nachdem kurz zuvor sein Vater bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt war. Die Familie war/ist sehr arm, die Mutter kümmert sich nicht nur um Surapat, sondern zusätzlich um den stark gehbehinderten Onkel meines Patenkindes und versorgt ebenfalls die Großmutter.

2010 starteten wir mit unserem Patenprojekt. Wir nahmen Kinder auf, dessen Familien kaum etwas hatten, um über die Runden zu kommen. Vor allem zu wenig haben um sich leisten zu können, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Um wirklich auch die zu finden, die die Hilfe am Nötigsten haben, entscheidet die Dorfbevölkerung mit dem Dorfvorsteher gemeinsam, wessen Kinder und deren Eltern am Dringendsten zusätzliche Unterstützung benötigen. So kam auch Surapat nach dem Tod seines Vaters, dem Hauptverdiener der Familie, zu uns ins Mae La Noi Patenschaftsprojekts.
Beim ersten Zusammentreffen mit mir und den Patenkindern im Haus der Betreuerin Suda, war ich ganz aufgeregt und hielt überall Ausschau ob ich Surapat irgendwo erkenne. Ich kannte ihn bis dahin nur von einem Foto und freute mich sehr, ihn endlich kennenzulernen. Aber dann wurde mir mitgeteilt, dass er krank sei und heute nicht dabei wäre. Man war ich enttäuscht.... aber ich dachte, besser es trifft mich als einen der anderen neuen Paten. So kann ich jedenfalls die Geschenke an die anderen Patenkinder austeilen und Fotos machen, damit die Paten zu Hause ihre ersten Briefe erhalten.
Glücklicherweise wohnt Suda nicht so weit entfernt von Surapat, so dass wir nach dem Patentreffen zusammen zur Hütte von Surapats Familie gefahren sind.
Sie haben ein einfaches, aber schönes und stabiles Holzhäuschen auf Stelzen, wie es so üblich ist in den Bergen. Leider findet man darunter keine Schweine oder Hühner, denn das würde bedeuten, man hat es „geschafft“ und findet im Leben alleine zurecht.
Unter diesem Haus aber stand ein zusammengehämmerter Gegenstand, unten ein Rad, befestigt an einem Ast mit Querstange. „Hat mein Papa mir gemacht, ich möchte mal Pilot werden“... schluck... du wirst so niemals Pilot werden können, hab ich damals gedacht, du armer kleiner Junge.
Aber Mitleid war eigentlich völlig deplatziert, Surapat strahlte die ganze Zeit während unseres Besuchs und er ist ein fröhlicher, unbeschwerter, kleiner Junge.
Anfangs war es schwierig mit ihm richtig in Kontakt zu treten... ganz klar, er hatte in seinem Leben noch nie eine 1.86m große blonde Frau gesehen, die dann auch noch zu Hause bei ihm auf dem Boden sitzt und ihn die ganze Zeit anguckt. Unangenehme Situation. Also fing ich an mit ihm Memory zu spielen, das hatte ich ihm mitgebracht. Nach einiger Zeit flog die erste Karte durch die Schlitze im Boden - ich hab ihn angeguckt und gelacht, aber so richtig wurde ich nicht warm mit ihm, er hat mich aus Ängstlichkeit nicht mal richtig angeschaut. Aber dann, auf einmal fasste er mir auf den Arm und sagte irgendwas zu mir, was ich natürlich nicht verstand.
Es wurde mir übersetzt, dass ich vorsichtig sein soll, weil dort ein Käfer krabbelte der beißt und es dann weh tun würde. Und dann lachte er mich an: Eis gebrochen.

Als ich zurück nach Chiang Mai kam kaufte ich ihm ein Dreirad, bei dem die Stützen später entfernt werden können und bat darum, dass die Mitarbeiter der Stiftung das Rad an Surapat übergeben, sobald sie mal wieder bei ihm in der Gegend sind.

Im Winter darauf bekam ich ein lustiges Krickelbild von ihm zugeschickt, ich weiß nicht was genau er malen wollte, aber ich habe mich sehr darüber gefreut.

Das Jahr danach besuchte ich ihn erneut. Es war viel entspannter, er war ein neugieriger kleiner lustiger Junge geworden. Wir saßen sogar zusammen auf einer Bank und er schaute mich direkt an, das wäre ein Jahr zuvor undenkbar gewesen.
Wir trafen uns mit allen Patenkindern im Haus der Betreuerin und übergaben die Geschenke der Paten. Surapat war fröhlich, lachte viel und hatte sich richtig schick gemacht in seinem Karen-Outfit. Später fragte ich ihn, ob er einen besonderen Wunsch hätte und dass ich ihm gerne etwas schenken wollen würde. Er meinte, er hätte keinen besonderen Wunsch, es wäre nur toll, wenn ich später nach seinen Reifen schauen könne, irgendwie wäre sein Fahrrad kaputt. Süß dachte ich, er kann sich etwas wünschen und möchte gar nichts Neues! Durch meinen Beruf als Lehrerin ziehe ich dann automatisch Vergleiche, so eine Antwort wäre in Deutschland wohl undenkbar gewesen: „Nee nee, lass mal, ich brauche nichts neues, das alte ist gut genug, funktioniert nicht mehr so 100%, aber vielleicht kannst du danach mal gucken!“ Als würde das ein Kind hier in Deutschland sagen, wenn es sich wünschen könnte was es möchte.

Um nach dem Fahrrad zu schauen, sind wir dann nach der Feier zu Surapats Zuhause gefahren. Dort erzählte uns die Mutter, dass das Fahrrad überhaupt nicht kaputt sei, sie aber immer die Luft aus den Reifen lassen würde, weil Surapat damit quer durch die Berge bis ans andere Ende des Dorfes fahren würde... und sie hätte einfach Angst um ihm. Ich hab mir bildlich vorgestellt, wie er in die Pedale tritt und schnell wie der Wind aus der Sichtweite der Mutter verschwunden ist.... was sollte er machen, er liebt das Schnelle, möchte er doch Pilot werden!

Im nächsten Jahr besuchte ich Surapat in seiner Schule. So wie jedes Jahr zum Sommer und zum Winter schreiben die Kinder ihren Paten einen Brief und malen ihren Paten ein Bild dazu.
Surapat hatte in dem Jahr kein Bild für mich vorbereitet. Ich fand es nicht schlimm. Er hatte keine Lust und Suda schimpfte mit ihm. Wenn er keine Lust hat, dann muss er das nicht machen, dachte ich. Ich konnte ihn ja auch live treffen, da war das Bild für mich so was von nebensächlich. Dass die anderen Paten sich natürlich über ein gemaltes Bild freuen ist etwas ganz anderes. Die anderen Patenkinder malen auch sehr gerne! Aber mein Surapat ist eben ein kleiner Rebell... und das darf er auch sein. Man muss nicht immer machen was andere von einem wollen, ich konnte Surapat gut verstehen. Ich bin genauso. Trotzdem malte er mir dann noch etwas. Er zeichnete einen Dinosaurier von der Außenwand der Schule ab. Freihändig. Und es war super! Ich war ganz begeistert wie gut er zeichnen konnte... hahaha, wenn er denn will!
Aber die Lust am Malen und Zeichnen wollte sich in den darauffolgenden Jahren anscheinend nie so recht zeigen.... deswegen amüsiere ich mich jedes Jahr über seine „dahingeklatschten“ Bilder, während andere Paten wahre Meisterwerke bekommen.
Es gibt Wichtigeres im Leben als gerne Zeichnen zu wollen.
Viel wichtiger ist, dass es ihm gut geht, er regelmäßig genug zu essen bekommen und gerne zur Schule geht. Und dass er mich in seinen Briefen immer wieder fragt, wann ich mal wieder zu Besuch komme. Er schreibt mir, dass er mich vermisst und das ist viel schöner, als ein gemaltes Kunstwerk.

Ich bin froh, dass ich Surapat als Patenkind habe. Seit 8 Jahren begleitet mich der Kleine, der mittlerweile gar nicht mehr so klein ist. Und ich begleite ihn. Er weiß, dass ich ihm helfe und für ihn da bin, wenn etwas ist. Und er weiß, dass er zur Schule gehen kann, weil es irgendwo am anderen Ende der Welt jemanden gibt, der das ermöglicht. Einfach nur, weil nicht jeder gleich viel Glück im Leben hat. Und ich ein bisschen von meinem Glück und dankbarem Leben zurückgeben möchte.

Seit 5 Jahren habe ich Surapat nun nicht mehr besuchen können, deswegen freue ich mich nun über seine Briefe natürlich noch viel mehr. Über seine Erzählungen, was er werden möchte, wie er seiner Mutter zu Hause hilft, wie er Muttertag feiert, wie er den Armen und Obdachlosen helfen würde, wenn er König wäre.
Einmal schrieb er, dass sein Lieblingstier ein Papagei ist. Als sein Vater noch lebte hatte dieser einen Papagei, den Surapat jeden Tag mit Reis und Bananen fütterte und der auch seinen Namen und ein paar andere Wörter sagen konnte. Als sein Vater starb, ist auch der Papagei gestorben, und das hat ihn sehr traurig gemacht. Und dazu bekam ich kein Kritzelbild, sondern ein ganz wundervolles Bild von dem Papagei, den er vermisst. Er wird sich richtig Mühe gegeben haben, vielleicht weil ihn der Papagei an seinen Vater erinnert. Ich weiß es nicht, aber es hat mich sehr berührt.
Im September 2017 schrieb er mir, wie er die Welt verändern würde, wenn es in seiner Macht läge. „Ich würde die Welt voller grüner Natur verändern, voll von Bäumen, Blumen und schönen Farben. Die Menschen wären voller Liebe, leben in einer Gemeinschaft und helfen einander. Ich würde die Welt mit Frieden füllen, die Welt verändern ohne selbstsüchtige Menschen.“

Aus dem kleinen Dreirad-fahrenden Rebell ist ein ganz wundervoller Junge geworden. Mit einer Einstellung, die ich vielen Erwachsenen wünschen würde.
Ich hoffe, dass ich Surapat noch eine Weile begleiten darf, bevor er groß genug ist, dass er auf eigenen Beinen stehen kann. Er soll seine Kindheit genießen und sich keine Sorgen machen müssen. Und dafür bin ich als Patin da.
Eine Patenschaft ist etwas Wundervolles. Man gibt nicht nur, man bekommt unheimlich viel zurück.

Ich wünsche euch ein besinnliches Weihnachtsfest im Kreise eurer Liebsten!

Anne Brouer